„Zwei Sommer lang Indianer“ Journal Folge 6/6: Wo die Liebe hinfällt

2 Mär
Vorbemerkung: Am heutigen Samstag, den 2. März 2013 wird eine literarische Reisereportage mit dem Titel „Zwei Sommer lang Indianer“ um 14.00 Uhr auf radio blau (www.radioblau.de) welturaufgeführt. radio blau ist das freie und nichtkommerzielle Lokalradio Leipzigs. Man kann radio blau sowohl auf UKW in Leipzig als auch per Stream in der ganzen Welt hören. Ab Montag, den 25.02.2013 poste ich bis zur Welturaufführung jeden Morgen eine Geschichte aus meiner Zeit bei den Chippewa-Cree hier. So können sich alle Interessierten Schritt für Schritt auf die Reise begeben… Nachfolgend kann man bereits einen Trailer zur literarischen Reisereportage hören:

Wo die Liebe hinfällt

Als Allen Craine 1949 ein Postamt in Washington betrat, wusste er noch nicht, dass er hier den Grundstein für den Rest seines Lebens legen würde. Er war 29 Jahre alt und die Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg ließen ihn nicht los. Bevor er 1942 einberufen wurde, hatte er ein Lehramtsstudium in Florida erfolgreich beendet. In Washington versuchte er nun nach seiner Rückkehr Fuß zu fassen und einen Job als Lehrer zu finden. Es sah schlecht aus. Er handelte sich Absage um Absage ein.

In dem kleinen Postamt wollte er nur ein Telegramm an seine Familie aufgeben. Er wollte ihnen schreiben, dass er in den nächsten Tagen nach Ohio zurückkommen würde – ohne Job. Neben dem Schalter entdeckte er jedoch ein Plakat. Zu dieser Zeit war es üblich, dass staatliche Behörden öffentliche Stellenausschreibungen in Postämtern anbringen ließen. Er hatte sich schon mehrfach auf solche Ausschreibungen beworben, aber seine Bemühungen waren stets erfolglos geblieben. Auf dem Plakat stand geschrieben, das Amt für indianische Angelegenheiten suche Leute für den Schuldienst in Indianerreservaten. Mr. Craine zögerte nicht lange. Er ging nach Hause und stellte eine Bewerbungsmappe zusammen. Wenige Tage später fuhr er nach Ohio zurück zu seiner Familie.

Allen Craine

Über Indianer wusste Allen Craine so gut wie nichts, außer, dass die Indianer, die er in Pennsylvania, wo er aufwuchs, kennengelernt hatte,  Zöpfe trugen und sich ganz anders als die weißen Einwohner des Städtchens kleideten. Für ihn waren Indianer Adlige. Sie strahlten ein Bewusstsein über die eigene Besonderheit aus. Sie waren stolz auf etwas. Mr. Craine bewunderte das.

Als er drei Monate später in Ohio ein Telegramm vom Amt für indianische Angelegenheiten erhielt, erinnerte er sich an den Nachmittag auf dem Postamt in Washington. Er las, er könne als Lehrer für sie arbeiten und solle sich in einer Woche in Havre, Montana einfinden, um eine Lehrerstelle im Rocky Boy Reservat anzutreten. Mr. Craine freute sich. Nach all den Fehlversuchen hatte er endlich einen Job – noch dazu bei den „Adligen“. Die schier zermürbende Stellensuche hatte ein Ende. Er kaufte sich noch am gleichen Tag ein Eisenbahnticket. Die Fahrt dauerte drei Tage. Der junge Lehrer war noch nie zuvor in Montana gewesen. Er hatte auch noch nie etwas vom Rocky Boy Reservat gehört. „Ja, so ein bisschen habe ich mich schon auf ein Abenteuer eingelassen“, sinniert er heute. Seine Augenlider flattern, wenn Bilder aus diesen Tagen vor seinem geistigen Auge vorbeifliegen.

Heute ist Allen Craine 90 Jahre alt. Als ich zu unserem Gespräch komme, erwartet er mich auf der Veranda seines Hauses. Er ist einer dieser alten Männer, die in sich ruhen, die zufrieden auf ihr Leben blicken und deswegen einen Gleichmut ausstrahlen, der in einer tief empfunden Versöhnlichkeit gründet. Die Gesichtszüge sind ebenmäßig, obgleich viele kleine Falten sein Gesicht überziehen. Die blauen Augen leuchten glasklar und strahlen eine Weitherzigkeit aus. Wenn Menschen, die von einem Lebensabend in einem Haus inmitten der Natur träumen, gebeten werden, diesen Herzensort zu beschreiben, dann skizzieren sie mit Sicherheit Allen Craines Alterssitz. Das Haus ist ganz und gar aus Holz gebaut. Die Giebelfront ist verglast, so dass der Innenraum von Licht durchflutet wird. Auf der Veranda steht eine Holzbank neben der Eingangstür. Blickt man von hier in die Umgebung, hat man das Gefühl in die unberührte Wildnis zu schauen. Mr. Craine sitzt hier oft und genießt die Aussicht. Der Platz auf der Bank vor seinem Haus ist gewissermaßen einer der Gründe, warum er Rocky Boy nie wieder verlassen wollte.

Er wurde im Oktober 1949 an der damaligen Grundschule abgesetzt. Die Schule verfügte über zwei Klassenzimmer und eine kleine Wohnung. Mit dem Leben in der Wildnis, die das Reservat damals noch zu weiten Teilen war, hatte der Großstädter Allen Craine keine Erfahrungen. So verbrachte er seine erste Nacht ohne Strom, ohne Wasser und Heizung, während er von draußen die Kojoten heulen hörte. Wie ein Stromgenerator, der Brunnen und der Holzofen funktionierten, musste ihm der Schulbusfahrer Wolfchild am nächsten Morgen erst einmal zeigen. Er lebte sich trotz der für ihn neuen hemdsärmeligen Lebensbedingungen schnell ein. Die Arbeit machte ihm Freude und das Leben in der Wildnis übte einen gewissen Reiz auf ihn aus. Außerdem gab es viel zu tun. Die gesamte Schulverwaltung in den Reservaten wurde umgebaut. Mr. Craine kaufte sich ein Pferd und ritt bald von Schule zu Schule, da er zunehmend mit Verwaltungsaufgaben betraut wurde. Ein Greenhorn aus Pennsylvania richtete sich im Schoße der Chippewa-Cree-Indianer in der Prärie Montanas ein.

Bis in die späten Fünfziger Jahre gab es eine freitägliche Kinovorführung in der Turnhalle des Reservats. Allen Craine war für den Kartenverkauf zuständig. Bereits kurz nach seiner Ankunft traf er hier Anne, seine spätere Frau. Sie war zehn Jahre jünger als er und dachte nicht daran, den weißen Neuankömmling auch nur eines Blickes zu würdigen. Eine Kinokarte kostete damals sechszehn Pfennig. Mr. Craine gab ihr ausversehen, wie er mit einem spitzbübischen Grinsen betont, zu wenig Wechselgeld. Statt neun Cent gab er ihr nur sieben heraus für ihren Viertel Dollar. Anne bemerkte das zunächst nicht und ging in die Turnhalle. Kurz darauf kam sie zurück, um ihn auf sein vermeintliches Missgeschick hin zur Rede zu stellen. Allen Craine freute sich heimlich, hatte er doch damit die erste Hürde genommen. Was sich für ihn heute als Liebe auf den ersten Blick darstellt, war vor allem ein steiniger Weg. Erst 1954, fünf Jahre später, heirateten die beiden. Heute ist sich Mr. Craine sicher, dass sie ohne Annes Großmutter wohl immer noch nicht verheiratet wären. Sie hatte bei allen Familienangehörigen immer wieder eindringlich um Verständnis für die Beziehung der beiden geworben. „Wenn sie sich lieben, ist seine Hautfarbe egal“, hatte sie alle Lästermäuler und Intrigantinnen wissen lassen. Ein „Bleichgesicht“ war damals nicht unbedingt der Traum aller Schwiegermütter.

Mit dem Fortschreiten der Schulreformen wurde Allen Craine von der Indianerbehörde so manches Mal versetzt. Seine Berufserfahrung im Umbau der Schulverwaltungsstrukturen war gefragt. So kam er nach Utah in ein Navajo-Reservat, später zu den Cheyenne und die letzten Jahre vor der Rente war er Schulverwaltungsdirektor eines Reservats in Alaska. Sein Haus in Rocky Boy hatte er unterdessen schon in den Achtziger Jahren bauen lassen. Nicht nur weil Annes Familie hier lebte, nein, auch er hatte hier Wurzeln geschlagen – aber vor allem hatte er hier seine drei Lebenslieben getroffen.

Mr. Craine lässt den Blick über den seichten Abhang vor seinem Haus hinunter ins Tal schweifen. Am anderen Ende steigt einer der größeren Hügel Rocky Boys, die die Leute hier Berge nennen, steil an. „Heute haben wir Glück“, unterbricht er sich und deutet auf einen Felsvorsprung. Dort hat sich nämlich eine Gruppe Bergziegen versammelt. Mr. Craine hält kurz inne. Er scheint, jede Kleinigkeit von dem aufzunehmen, was in Flora und Fauna um sein Haus vor sich geht. Mehrmals unterbricht er sich, um mich auf Vögel, Schmetterlinge oder eben jene Bergziegen hinzuweisen. Diese hat er schon seit Jahren nicht mehr gesehen.

Bergziegen auf dem Hügel vor dem Haus von Allen Craine

Bergziegen auf dem Hügel vor dem Haus von Allen Craine

„Seine drei Lebenslieben“, so knüpft er unversehens an, „sind alle mit Rocky Boy verbunden“. Da ist natürlich Anne, seine Frau mit der er seit 56 Jahren verheiratet ist. Dann sind da die Indianer, die ihn sein ganzes Berufsleben begleitet haben, und ihm die Möglichkeit gegeben haben, einen „Blick auf die Welt“ einzunehmen, den er in Ohio, Washington D.C. oder Florida wohl nie hätte gewinnen können. Und da sind die Weite, die Prärie, die freie Natur, die Vögel und all die anderen Tiere. Alle drei Lieben haben ihn zu einem anderen Menschen gemacht. Ich frage nach. Was meint er mit diesem „Blick auf die Welt“, den er sich ohne die Indianer nicht hätte aneignen können?

Mr. Craine überlegt lange und klopft dabei immer wieder sacht mit seinem Gehstock auf den Boden. „Die Gemeinschaft ist hier das Wichtigste“, sagt er. Der Satz mutet unprätentiös an, doch dabei liegt in ihm eine tiefe Wahrheit verborgen. Klar habe sich vor allem in den letzten 30 Jahren viel von dem verändert, was gemeinhin als „indianisch“ gilt, führt er aus, aber es gebe noch immer eine Nächstenliebe unter den Leuten hier, die er so aus der Welt der Weißen nicht kenne. „Nächstenliebe“ ist das Wort, was Mr. Craine benutzt, um zum Ausdruck zu bringen, dass er hier eine Lebensauffassung kennen und lieben gelernt hat, die stets die Anliegen der Gemeinschaft über die Interessen des Einzelnen stellt und die immerfort auf einen Einklang mit der Natur bedacht ist.

Allen Craine_2

Allen Craine lebt heute erfüllt und glücklich. 1949, das Poster im Postamt und seine promte Bewerbung muten dabei auch ein bisschen wie Flucht an. Die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg und an der Ostküste nach seiner Heimkehr in den Vierziger Jahren haben ihn misstrauisch gemacht gegenüber der westlichen, industrialisierten Welt. Die Besuche seiner Familie in Rocky Boy während all der Jahre kann er an einer Hand abzählen, er selbst wollte auch nie zurück. Er hat sich hier aus einem Abenteuer ein neues Leben aufgebaut und dabei drei Lebenslieben gefunden – seine Frau Anne, das Gefühl des Gutaufgebobenseins inmitten einer Gemeinschaft mit menschlichem Antlitz statt Ellenbogenmentalität und einen Artenreichtum an Vögeln, wie der Hobby-Ornithologe Craine nicht müde wird zu betonen. Dann erzählt er eine weitere Anekdote aus seinem reichhaltigen Repertoire. Es trug sich nämlich zu, dass er eines Nachts ein tiefes Grummeln aus dem Garten hörte. Damals gab es noch Grizzlybären in Rocky Boy… So geben sich die Geschichten die Klinke in die Hand. Nach fast drei Stunden breche ich auf, um mich auf den Weg machen, diese „Nächstenliebe“, von der Mr. Craine sprach, zu finden. Auf dem Weg zum Auto frage ich mich, was wohl bis heute an indianischer Lebensweise erhalten geblieben sein könnte, das eine ganzheitliche Lebensweise zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft und zwischen Mensch und Natur überhaupt möglich macht?

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