„Zwei Sommer lang Indianer“ Journal Folge 5/6: Was die innere Stimme zum Klingen bringt

1 Mär
Vorbemerkung: Am kommenden Samstag, den 2. März 2013 wird eine literarische Reisereportage mit dem Titel „Zwei Sommer lang Indianer“ um 14.00 Uhr auf radio blau (www.radioblau.de) welturaufgeführt. radio blau ist das freie und nichtkommerzielle Lokalradio Leipzigs. Man kann radio blau sowohl auf UKW in Leipzig als auch per Stream in der ganzen Welt hören. Ab Montag, den 25.02.2013 poste ich bis zur Welturaufführung jeden Morgen eine Geschichte aus meiner Zeit bei den Chippewa-Cree hier. So können sich alle Interessierten Schritt für Schritt auf die Reise begeben… Nachfolgend kann man bereits einen Trailer zur literarischen Reisereportage hören:

Was die innere Stimme zum Klingen bringt

Kinderaugen sehen die Welt mit anderen Augen, weil sie auf eine innere Stimme hören. Diese innere Stimme verkümmert später peu à peu mit jeder Lebensstufe. Erwachsene können sie nicht mehr hören, nicht mehr mit ihr sehen. Dabei wohnt ihr eine bestimmend-verzaubernde Qualität inne. Bei Kindern übersetzt die innere Stimme nicht unbedingt nur das, was die Augen sehen, in einen Gedanken, ein Wort oder einen Satz, sondern sie erzählt davon, was sie sehen möchte, was die Kinder sich zu sehen wünschen. Sie ist ein kindlicher Traumzauber und kleidet die Tatsachen in ein unsichtbares Gewand. Dabei ist es die kindliche Kraft der phantasievollen Verwandlung, die den Gegenstand in eine Welt entführt, die unsichtbar bleibt. Für Kinderaugen ist es daher oft zweitrangig, was man tatsächlich sieht. Diese unsichtbare Welt ist so viel bunter und mystischer. Die Kinder verteidigen sie so lange es geht gegen die Welt der Fakten, sie führen Krieg gegen die Armeen vollendeter Tatsachen. Dabei scheinen sie zu ahnen, dass diese Armeen unbesiegbar sind. Die Kindheit ist mit deren Triumph dann endgültig vorbei. Nun wohnen keine Wäschemonster mehr in Wäschekörben und der Himmel zeigt im Wolkenkino keine Märchen mehr. Das Kind ist erwachsen geworden, hat sich von der inneren Stimme emanzipiert. Kinder lernen das Sehen jetzt richtig – ohne Traumzauberkleid und Märchenwaldnebel. Die innere Stimme verstummt. Nur mit viel Mühe kann man sie später als Erwachsener wieder zum Klingen bringen. Dabei sehnt man sich doch so sehr nach der Unbeschwertheit der eigenen Kindheit. Ein Wäschekorb wird nie mehr nach Monsterkacke riechen, höchstens nach verschwitzten Sportsachen. Als Erwachsener gäbe man allerdings ein Königreich für Monsterkacke im Wäschekorb.

„Vernon The Boy“ hat seine innere Stimme wieder zum Klingen gebracht. Er sieht die Welt zwar nicht mit Kinderaugen, aber auch nicht mit denen eines Erwachsenen. Vernons Blick ist auf die Beziehungen zwischen den Dingen gerichtet, die man mit der Kraft der Augen allein nicht sehen kann. Eine Feder ist nicht nur eine Feder. Sie ist ein Symbol für Freiheit. Ebenso ist das Kreuz nicht nur ein Kreuz, ein Ring nicht nur ein Ring. Für Vernon ist jeder Gegenstand ein Symbol für etwas. Jedem Ding wohnt eine Bedeutung inne, die über seine Gegenständlichkeit hinausgeht. Ein Fenster ist bei Vernon nicht nur ein Fenster, eine Tür nicht nur eine Tür und erst Recht ist ein Baum nicht nur ein Baum.

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Ich treffe Vernon in der Kirche von Rocky Boy. Er trägt Cowboystiefel und eine ausgewaschene, dicke Jeans. Seine Haut sieht so aus, als wäre er ein Indianer, der regelmäßig ein Solarium aufsucht. Sein Holzfällerhemd hängt auf einer Seite aus der Hose, die Ärmel hat er es etwas nach oben geschlagen. Den Cowboyhut hält er lässig zwischen Zeige- und Mittelfinger. Er begrüßt mich. Seine Hand ist rau wie Sandpapier und hat Furchen so tief, als würde es zu seinen Hobbies zählen, Nägel mit der bloßen Handfläche in Bretter zu schlagen. Ich bin verwundert, denn dieser Mann scheint in der Tat eine Art Cowboy-Indianer-Hybrid zu sein. Viele Indianer, die ich treffe, sehen in gewisser Weise aus wie Cowboys. Das liegt aber mehr an meiner Zuschreibung an eine bestimmte Kleidung als an ihrer tatsächlichen Berufung. In Montana sieht jeder Landbewohner aus wie ein Cowboy. Vernon aber trägt bunte Armbänder aus indianischen Perlen, einen aufwendig verzierten glitzernden Gürtel und eben dazu Stiefel, Hemd und Hut. Er scheint den Widerspruch auszukosten, fast zu zelebrieren. Ich muss an die Faschingsfeiern im Kindergarten denken. Damals musste man sich entscheiden. Bist du Cowboy oder Indianer? Beides ging nicht. Vernon ist aber beides. Nach dem Gottesdienst stelle ich mich zu ihm. Er raucht eine Zigarette. Ich grinse in mich hinein, denn für einen kurzen Augenblick sehe ich Lucky Luke in lässiger Pose vor mir. Mein Grinsen wird breiter als ich kurz überlege, ob ich zum Parkplatz gehen soll, um nachzusehen, ob zwischen den Pick-Ups vielleicht Jolly Jumper, das Pferd von Lucky Luke, auf Vernon the Boy wartet. So viel menschgewordenes Klischee wirkt schon wieder echt. Ich bemerke, wie er mich von oben bis unten mustert. Dann schlägt er mir auf die Schulter und sagt, er würde sich freuen, wenn ich ihn heute Nachmittag besuchen komme. „Edmont weiß, wo ich wohne“, sagt er. Er ist bereits ein paar Meter von mir entfernt, als er sich umdreht und knarzig lacht. Seine Worte gehen in seiner kehligen Lache fast unter. Er sagt so etwas wie: „Ich wohne in einem Cowboy-Indianer-Haus. Das musst du gesehen haben.“

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Als ich am Nachmittag sein Grundstück am Rande des Reservats erreiche, erinnere ich mich daran. Sein Haus ist ein Gebilde, das irgendwie alles ist und alles hat. Es gibt viel Glas und Holz, eine Veranda, einen Balkon, eine Galerie, ein Treppenportal, einen Springbrunnen, eine Brücke und einen Bach. Es ist Haus, Bungalow, Schloss und Burg gleichermaßen. Auch Formen und Farben sind in einer Vielfalt vertreten, die alles sprengen, was die alte wie die moderne Architektur an einem Objekt nebeneinander je hervorgebracht hat. Ich entdecke dreieckige, rechteckige und runde Fenster sowie schwarze, rote, weiße und graue Dachziegel und bleibe vor dem Eingangsportal stehen. Auf den ersten Blick sieht das Haus instabil, krumm und schief aus. Vernon scheint Baumaterialien jeder Art zusammengeklaubt zu haben, um sie dann dort einzubauen, wo sie von größtem Nutzen waren. Die Birkenstämme, die im Eingangsportal den Balkon stützen, sind eher Stämmchen. Mich beschleicht das Gefühl, dass Vernon „Budebauen“ spielt. Er scheint kein richtiges Haus zu bauen, sondern eher einen hausgewordenen Sperrmüllspielplatz. Erst auf den zweiten Blick erschließen sich die Idee, die Methode und das System des Architekten.

In Vernons Haus ist alles im Gleichgewicht, zu- und in Harmonie miteinander. Kein Gegenstand, kein Werkstoff wurde grundlos verarbeitet. Die Eingangstür zeigt nach Osten, dorthin, wo die Sonne aufgeht. Er will die Sonne und das Licht, das Gute und die Wärme einladen einzutreten. So unterschiedlich die Hölzer, die er für die Wände verarbeitet hat auch sind, so zusammengestückelt das Sammelsurium aus Holzstämmen und Ästen, ungehobelten Brettern, Sperrholzplatten und alten Fensterrahmen auch erscheint, so harmonisch fügen sich die Dinge ineinander. Der goldene Schnitt war ihm dabei besonders wichtig. Diagonalen, die an Stämme in einem Tipi erinnern, finden daneben aber auch ihren Platz. Es sind jedoch  die unsichtbaren Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen, die Vernons Haus zu einem magischen Ort machen sollen. Ich frage ihn, was er damit meint. Was ist es, was sein Haus magisch auflädt? So beginnt eine Wanderung durch sein Haus, auf der mir Vernon erklärt, wie die Dinge miteinander in Verbindung stehen. Er zeigt mir auf, wie man nicht die Dinge, sondern ihre Bedeutung sehen kann. Da ist etwa sein keltisches Kreuz mit Adlerfedern an den waagerechten Enden und einem Lasso als Ring um den Schnittpunkt der Balken. Jesus Christus, sowie Westenromantik als auch das Gefangensein in dieser Westernwelt um diesen Jesus Christus herum, kommt darin zum Ausdruck. Gleich neben dem Kreuz weiden deswegen auf einem Gemälde anmutige Büffel im Gras. „Es wohnen zwei Seelen in meiner Brust“, sagt Vernon. Dann zeigt er mir seinen Kronleuchter aus Kletterseilen, ausrangierten Lampenschirmen, Altmetall und Lassos. Besonders ins Auge fallen aber immer wieder seine Wandgemälde. Hier finden sich besagte Büffelherden vor einer Bergkulisse ebenso wie die Porträts von Jesus nebst Bibelzitaten. Die romantisierenden Darstellungen schaffen eine sakrale Atmosphäre. Diese wird gebrochen von alten Wagenrädern, die Vernon zu Fenstern umfunktioniert hat. Man wähnt sich unversehen in einem Saloon. Die Luft riecht nach Marlboros. Kurzum: Erlaubt ist alles, was ihm in die Hände fällt. Viel davon bekommt er von Freunden und Bekannten. Oft ist er aber auch auf Flohmärkten unterwegs. „Ich muss mit dem klarkommen, was ich auftreiben kann“, sagt er. Er gibt Kunstkurse am College. Von dem, was er dort verdient, kann er leben, aber kein Haus bauen. Vielleicht wirkt es deshalb so, als ob er gewissermaßen Western-Sperrmüll durch indianischen Kakao ziehen würde. Jesus und der Adlerspirit bilden im Cowboy-Indianer-Haus aber für Vernon ganz wahrhaftig eine festumschlossene Einheit.

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Vernon zeigt mir später einige seiner aktuellen Arbeiten als bildender Künstler. Sie alle atmen das Pathos zeitgenössischer indianischer Malerei. Die Darstellungen sind immer dieselben – der einsame Krieger auf seinem Pferd, Wölfe oder Büffelherden, der über der Prärie kreisende Adler oder ein Indianerdorf am Ufer eines Flusses, umrahmt von einer atemberaubenden Gebirgslandschaft. Die Bilder erinnern mich allesamt an Poster aus Jugendzeitschriften, die ebenfalls diesen phantastischen Ausdruck haben. Der Klassiker zeigt hier eine Lagune, die Farben sind übersättigt und aus dem Wasser springen Delphine. Die Sterne sind überproportional. In diesem postergewordenen Ambiente über dem Bett im Kinderzimmer wähnt sich ein 12-jähriges Mädchen im Paradies. Manchmal verkauft Vernon ein paar dieser indianischen Phantasie-Biedermeier-Bilder. Sie zeigen die Welt der Indianer, wie wir sie aus Büchern kennen. „Ich male die Bilder zu den Büchern von Karl May“, sagt er, nicht ohne sein krächzendes Raucherlachen anzuhängen. „Das ist das, was sich verkauft.“ Würde Vernon den Reservatsalltag im 21. Jahrhundert malen, würde er gar kein Bild verkaufen. Arbeitslose, Drogenabhängige und minderjährige alleinerziehende Mütter sind nicht die Motive, die reißenden Absatz fänden. Vernon malt aber auch Porträts. Die Leute kommen mit Fotos von Menschen in Vorgärten und Wohnzimmern und nehmen ein Gemälde der Person im indianischen Gewand mit nach Hause. „Das sind gut bezahlte Aufträge“, kommentiert er dieses Arbeitsfeld.

Ich frage Vernon, warum er dieses Haus baut. „Ich muss“, gibt er mir lapidar zur Antwort. Er steckt sich eine Zigarette an, lässt den Blick über seine Sperrholzplatten-Einbauküche schweifen, in die er, als ich ankam, gerade Kabelschächte montieren wollte. Er pustet den Rauch aus und beginnt zu erzählen. Offenherzig berichtet er mir von seiner in die Brüche gegangenen Ehe, von seiner Frau, die verrückt wurde, seiner Alkoholikerkarriere, seiner Spielsucht, von verpassten Gelegenheiten und vermasselten Chancen. Nun sitzt er hier. Die besten Jahre liegen hinter ihm. Er ist trocken und hat einen 14-jährigen Sohn zu versorgen. Er will ihm etwas hinterlassen. Dieses Haus ist sein Lebenswerk, alles andere hat er versoffen, verzockt oder verwirkt. Er ist nun an einem Punkt angekommen, an dem er den Tatsachen ins Auge sehen will, ihnen aber gleichzeitig seine Blickrichtung aufzuzwingen versucht. Er ist Künstler, kann selbst gar nicht sagen, was für einer, ob bildend oder darstellend, in jedem Fall aber lässt er in diesem Haus die Dinge in einem anderen Licht erscheinen. Ein Lasso ist nicht nur ein Lasso, ein Kreuz nicht nur ein Kreuz und ein Wagenrad nicht nur ein Wagenrad. Aus der Form der Gegenstände ergibt sich höchstens eine Aufgabe. Vor allem soll ihn dieses Haus beschützen, deswegen muss alles im Gleichgewicht sein, um niemanden draußen zu verärgern. Wenn Vernon über die bösen Geister spricht, die in der Nacht umhergehen, glaubt man an die schützende Strahlkraft des Hauses. Der Goldene Schnitt, das Einbeziehen der Himmelsrichtungen und das Wirrwarr aus christlicher, mythischer und indianischer Symbolik macht das Haus für Vernon, den ewigen Jungen, zu einem geborgenen und behüteten Ort.

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Eine Bibelstelle auf einem der Wandgemälde in Vernons Villa Kunterbunt stammt aus dem Johannesevangelium. Dort heißt es: „Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ Vernon hat im Laufe seines Lebens viel zu oft die Finger in die Male der Nägel an den Händen Jesu gelegt. Seine Kunst kommt nicht vom Können, sondern vom Müssen. Dieses Haus, dieser kunterbunte Haufen Sperrmüll, ist der Ausdruck seiner tiefsten Überzeugungen. Hier kann er alles in Beziehung zueinander setzen. Hier kann er etwas schaffen, dass es seinen Besuchern ein bisschen einfacher macht, statt eines unscheinbaren Wäschekorbes die Wohnstatt eines liebenswürdigen Monsters zu sehen. Vernon selbst hat sich nach Jahren des glücklosen Kampfs seine innere Stimme zurückerobert. Mit seinem Haus baut er ihr ein Denkmal.

Als wir uns verabschieden, drückt er mir seine Visitenkarte in die Hand. „Falls du mal ein Bild von mir brauchst, um…“. Er zögert. Dann lacht er kehlig und fügt an „um es zu verschenken“. Er hat meine Skepsis gegenüber seinen indianischen Stillleben bemerkt. Ich solle ihn dann einfach anrufen. Ich lache auch und steige ins Auto. Ich schaue auf seine Visitenkarte – dort steht „Vernon the Boy – indianischer Cowboykünstler“.

Eine ältere Version dieses Porträts findet man hier.

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