Der schmale Grat zwischen Opfer und Täter

19 Feb

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Ein schmaler bubenhafter Mann betritt die Bühne. Hemd und Pullunder. Er sieht gestriegelt und frisch rasiert aus. Es gibt Männer, die auch mit 30 noch etwas Lausbübisches haben. Solch ein ausgewachsener Lausejunge nimmt auf der Bühne Platz. Er ist gekommen, um aus seinem Leben zu erzählen.

Jürgen Bartsch hat zwischen 1962 und 1966 vier Jungen sexuell missbraucht und danach getötet. Das fünfte Opfer konnte fliehen. Bartsch wurde gefasst und verurteilt. Bei einer von ihm selbst veranlassten Kastration starb er versehentlich durch eine Überdosierung des Betäubungsmittels. Aus seiner Haft ist ein Briefwechsel mit dem Journalisten Paul Moor überliefert, der 1972 als Buch erschien.

In einer Inszenierung von Wolfgang Rodler bringt gestern Abend der Schauspieler Falk Schuster auf Grundlage des Briefwechsels Bartschs Geschichte auf die Bühnenbretter der Ratstonne in der Moritzbastei. Der Stoff ist starker Tobak. Der gesellschaftliche Umgang mit diesem Thema ist insgesamt natürlicherweise stark emotionalisiert – einerseits Heckscheibenaufkleber der Marke „Todesstrafe für Kinderschänder“, andererseits die Betrachtung pädophiler Neigungen als psychische Krankheit, die therapierbar ist.

Wie bringt man nun so einen Stoff auf die Bühne? Welche Geschichte will man erzählen? Wie geht man so mit dem Text um, so dass nicht der Eindruck entsteht, es würde versucht ein allgemeingültiges Bild zu zeichnen? Der Kunstgriff klingt theoretisch einfach und ist praktisch umso schwerer: indem man die Menschlichkeit auf die Bühne holt und die Bestie entdämonisiert.

Falk Schuster gelingt das sehr pointiert: Im ersten Teil der Inszenierung spielt der Täter Bartsch keine Rolle. Er grinst hässlich, wenn überhaupt, ab und an von der Schulter des Opfers. Jürgen Bartsch ist in erster Linie Opfer und zwar eines das, wenn man den Briefen Glauben schenken kann, diesen Status nicht benutzt, um von seiner Täterschaft abzulenken. Er ist Adoptivkind, von den Zieheltern alleingelassen und emotional isoliert. Er wird im Knabeninternat missbraucht und er bekommt von den stets größeren und stärkeren Jungs ordentlich auf die Mütze. Das sieht man: Schuster mimt diesen hageren jungenhaften Mann überzeugend. Seine Frisur erinnert an einen Topfschnitt, der, wenn man mit dem Kopf nickt, die Augenlider berührt.

Man könnte meinen da wird ein Bild gezeichnet von dem Täter mit der schlechten Kindheit. Das kennt man ja. Der Neofaschist mit der zerrüttelten Alkoholikerfamilie aus dem Neubaugebiet einer ostdeutschen Kleinstadt kann nichts dafür. Er ist ein Opfer seiner Verhältnisse. Ein Systemverlierer, ein Außenseiter, einer, der nie eine Chance bekommen hat, einer, der obwohl schon ganz unten, immer noch einmal hier zu schreien scheint, wenn wieder einer ganz oben nicht weiß, wohin er treten soll.

Wolfgang Rodler vermag diese Falle galant zu umschleichen. Natürlich sitzt da ein Opfer. Dieses Opfer aber ist eben auch Mensch. Jemand der in den Arm genommen werden, mit anderen Kindern spielen will und vom Vater die Hand auf die Schulter gelegt bekommen mag mit einem Ausdruck väterlichen Stolzes in dessen Augen. Die Kindheitserlebnisse Bartschs prasseln wie Abziehbilder einer Biographie sozialer Verrohung herunter aber zu keiner Sekunde ist von dieser Lebensbühne Selbstmitleid zu hören, zu sehen, zu spüren oder gar zwischen den Zeilen zu lesen.

Bartsch ist niemand, der etwas entschuldigen, rechtfertigen oder gar erklären will. Bartsch erzählt. Darin liegt ebenfalls die große Stärke der Schauspielkunst Schusters. Er lässt das Opfer authentisch zum Täter mutieren und erzählt davon – ohne Zwischentöne, ohne Selbstmitleid und vor allem gänzlich unprätentiös, unterbrochen nur durch Zaubereien. Bartsch zauberte gern. Es war sein Hobby. Das Zaubern symbolisiert die Sehnsucht, die Träume und die Kindheit, die er nie hatte. Die Magien fungieren so als Blaupause von all dem entmenschlichten Leben um ihn herum und in ihm selbst.

Als Zuschauer ist es weniger die Geschichte, die Gefangene macht. Es ist der Sog des Normalen, der über jedem Wort Bartschs liegt. Da steht keine Bestie, sondern ein Kranker, der in diesem Status selbst keinen Freispruch von Schuld findet. Schuster schafft es zu fesseln durch die Normalität und das Negieren des eigenen stereotypen Bildes, das man mit sich herumträgt – file under: Neonazi aus dem Wohnblock, Schlägertyp mit alkoholkrankem Vater und so weiter. Der Grat, den man geht, wenn das eigene Leben von Lieblosigkeit durchsetzt ist, kann urplötzlich abfallen und ein Leben in den Abgrund reißen. Überlebenswichtige Dinge, das emotionale Survival-Paket für ein Leben aus Enttäuschungen, Gewalt und Verzweiflung, wurde nicht zum Mitnehmen in Butterbrotpapier eingewickelt. Isolation, nur der Mensch ist ein soziales Wesen. Wird seine Sozietät untergraben, ist der Weg zum Nicht-wissen-wie geebnet. Ein Opfer kann zum Täter werden, ob er will oder nicht. Schuster schaut als Bartsch lange ins Publikum. „Ich will lebenslang ein Junge sein – kein Mann und keine Frau und auch kein Kind – ein Junge.“ Das Licht geht aus.

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