In 100 Jahren ist Gera tot – Teil I

28 Nov

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Es ist 07:30 Uhr. 3 Grad. Es regnet. Ich trage Kapuzen-, Fleece-, Winter- und Regenjacke. Ich bin der Vier-Schichten-Mann. Der Himmel und die Häuser sind in einen Grauschleier gehüllt. Die Dunkelheit beginnt sich in Tageslicht zu verwandeln – zumindest in das, was man im November dafür hält. Auf der Lichtung im Häuserwald weht ein launiger Wind. Es ist der erste Tag in meinem Zwei-Wochen-Leben als Strom- und Gaszählerableser.

Ein Arbeitstag dauert 720 Minuten. Die Touren – so heißen die Laufzettel, die mir sagen, welche Straße und welche Häuser auf meiner Ableseodyssee liegen – sind in Minuten angegeben. Die Zeitangaben stimmen nie. Die Menschen in Gera, meinem Arbeitsplatz auf Zeit, sind zu griesgrämig und verbittert. Ich werde pro abgelesenem Zähler bezahlt. Minuten sind Geld. Der frühe Ableser fängt den Zählerstand. Gedankenkalauer beim Kaffee aus der Thermoskanne.

Es gibt etwas, dass ich während der letzten fünf Tage auf meinen Steifzügen durch Keller, beim Hin- und Herlaufen zwischen den Hauseingängen und beim Kontakt mit den Menschen vergeblich gesucht habe: die soziale Mitte. Es mag an Gera liegen – einer ostdeutschen Stadt abseits der Epizentren blühender Landschaften, aber vielleicht steckt auch mehr dahinter.

Ich treffe die verschiedensten Leute. Nur ein paar Minuten liegen zwischen meinem Sprüchlein durch die Gegensprechanlage und dem Moment, in dem ich mich beim Verlassen des Zählerraums verabschiede. Dann bleibt meine Momentbekanntschaft zurück. Es sind alte Menschen mit neuem Hüftgelenk, aus deren Wohnungen es nach Rostbratwurst, Katzenstreu und Staub riecht, junge Frauen in Jogginghosen mit Piercings und Tattoos chinesischer Schriftzeichen über der Pulsader, Familienväter mit Luxusklasse-Familienkutsche, Baumhaus im Garten und Fußbodenheizung im Keller und diejenigen,  in deren Flur sich Anzeigenblätter stapeln, um ausgetragen zu werden. Die Frauen in diesen Häusern sind allein unter der Woche. Sie wissen nicht wo die Zählerschränke sind. Am Wochenende sind ihre Männer nicht auf Montage. Ich soll dann wiederkommen.

Nun liest man nicht erst seit der Krise oft darüber, dass die Schere zwischen Armen und Reichen auseinandergeht. Dazwischen verschwimmen die sozialen Schichtungen zu bloßen Zuschreibungen von Statussymbolen. Haste was, biste was. Nichts haben heißt dabei aber nicht unbedingt Hunger, zahnlose Münder und Alkoholismus. Vielmehr bedeutet „nichts“ vermeintliche Nebensächlichkeiten, die sich in die alltägliche Lebenswelt eingeschlichen haben. Sie beschreiben die Armut der Menschen die mal Mitte waren. So entdecke ich etwa in einigen Kellern, Hinterhöfen und Gartenecken, dass alte Möbel, Sperrmüllholz und andere Holzabfälle aufgehoben, gesägt und zu Brennholz verarbeitet werden. Bei Armen bleibt die Heizung aus und die beschichteten Bretter wandern in die reanimierten Öfen. Es gibt Stadtteile da riecht es danach. Die Armen einer Konsumgesellschaft verfeuern ihren eigenen Abfall. Armut zum Riechen.

So suche ich seit fünf Tagen das Normale, den Durchschnitt oder eben die Mitte. Egal ob Neubauviertel, Altbau oder Reihenhaussiedlung. Der Durchschnitt bleibt Theorie, die soziale Mitte eine Illusion. Die Mittelschicht ist abgewandert – entweder aus der Stadt oder aber Richtung Ober- und Unterschicht. Es gibt nur Platte, bildungsferner Altbau oder Einfamilienhaus. Dazwischen die gähnende Leere der leerstehenden Altbauten und halbverfallener Werksgelände. In Leipzig würden erstere aufwendig saniert acht Kleinfamilien mit durchschnittlich 2,38 Kindern ein Eigentumswohnungsdach geben. Zweitere wären Spielplätze für Kreativwirtschaftler aus dem Selbstverwirklichungsmilieu – Lofts für Menschen, die sich etwas Individuelles schaffen wollen – Wohnblocklofts mit Ich-bin-anders-Attitüde im blühenden Landschaftsepizentrum.

Ein Immobilienverwalter erzählt mir beim Zählerablesen in einem potentiellen Spielplatzloft etwas über 2,- Euro Quadratmeterpreise. „Ja“, sagt er, „es gab Interessenten“. „Allesamt abgesprungen. Keiner hat Geld hier.“ Dann sagt er etwas, dass wie eine Weltuntergangsphantasie daherkommt und durch die leere Werkhalle der ehemaligen Textilfabrik hallt, wie ein Donnergrollen: „In 100 Jahren ist Gera tot.“

60% der Menschen, die mir die Haus- und Kellertüren öffnen, werden in den nächsten 30 Jahren sterben – sollten sie nicht alle dreistellige Lebensalter anstreben. Gera-Lusan, 80er Jahre Plattenbauviertelschmuckstück kann dann eigentlich komplett abgerissen werden. Die jüngeren Menschen, selten sogar mit Kindern, wohnen oft nur da, weil die Eltern im Nachbareingang oder gar auf derselben Etage gleich gegenüber wohnen. Mehrgenerationenwohnen in der Platte. Dafür muss es aber auch mehrere Generationen geben. Der Immobilienverwalter sagt: „Wer Abitur in Gera macht, studieren geht und dann Arbeit sucht, kommt in 80 von 100 Fällen nicht zurück. Klar die Dienstleistungen wird es geben – Polizei, Krankenhäuser, Ämter. Produzierendes Gewerbe in Gera exisitiert schlicht nicht mehr in der Form, als dass irgendeine Lukrativität davon ausginge.“ Gera schrumpft als nicht nur, wie viele Städte im Osten Deutschlands, sondern Gera stirbt auch noch – wirtschaftlich, demographisch und kulturell. Ich entgegne, dass doch immer darüber schwadroniert wird, dass Immobilien eine sichere Geldanlage wären. „Sicher“, sagt der Hausverwalter, „ich rate immer entweder in Alten- und Pflegeheime zu investieren oder aber Grund- und Boden im Geraer Umland zu erwerben.“ Umland? „Die Friedhöfe hier sind bald voll, da müssen neue angelegt werden.“ Die Zukunft einer Stadt liegt also im Erwerb von Ländereien, um die Toten zu begraben. Dem demographischen Wandel und dem wirtschaftlichen Niedergang seit 1989 sei Dank. Wer braucht da Pest und Cholera?

Ich darf nun mit meinem Stromzählerableseeintippgerät noch Zeuge sein, darf um das Krankenbett von Koma-Gera schlawenzeln und der Stadt und seinen Bewohnern die Hand halten, die letzten Atemzüge erahnen und mir einen Eindruck vom Sterben einer Stadt machen.

Montag: Mein erster Tag beginnt auf einem Parkplatz vor einem Netto-Supermarkt. Ein Kleinstadtindianer mit grauer Mähne, Bayern-München-Fanschal und Sternburger lehnt bereits am Geländer des Einkaufswagen-Parkplatzes. Zuerst ein paar Rentnerblocks ablesen, dann ein paar Unterschichten-Altbauten mit Sperrmüll im Treppenhaus und feucht-modrigem Geruch im Keller. In jedem Haus ist jemand da, um mich in den Keller zu lassen. Das ist das Gute an den vielen Rentnern und Arbeitslosen. Ich habe Mitleid mit den Leuten, die ganz unten wohnen: Sie sind die, bei denen immer zuerst geklingelt wird. Sie müssen immer raus – Pakete annehmen, Gasmann reinlassen, Zeugen Jehovas abwimmeln. Gleich im Anschluss führt mich meine Route in ein Villenviertel: Eine zu kurz geratene Ärztin mit Damenbart nebst junggebliebenem Ehemann-Rentner mit Testosteron-Sportwagen und wettergegerbter Segeltörnhaut beschimpfen mich als arrogant, weil ich meiner Arbeit in ihrer Arbeitszeit nachgehen würde. Ein Typ Marke „ehemaliger Stasi-Offizier“ lässt sich durch sein elektrisches Garagentor hindurch meinen Personalausweis zeigen, um zu erfahren, über wen er sich beschweren könnte, wenn er denn müsste. Es schneit und es ist kalt geworden. Ordnung muss trotzdem sein. Er gleicht den Personalausweis mit meinem „Dienstausweis“ ab. Kleine Schneeregenflocken fallen auf mein Passbild. Dann darf ich eintreten.

Einige Rentner sagen „Hallo“ durch die Gegensprechanlage. Ich sage mein Sprüchlein auf und bevor ich es beendet habe, hört mir schon keiner mehr zu. Alten Leuten werden zu oft Zeitungsabos, Butterfahren oder Bibeln an der Haustür angedreht. Ich kann sie ein bisschen verstehen. 2010 ist jeder, der nach 16:00 Uhr klingelt, prinzipiell verdächtig. Um 20.00 Uhr fällt der Hammer bei fast 900 abgelesenen Zählern. Standing Ovations.

Dienstag: Heute treffe ich keinen Menschen, auf den nicht mindestens zwei der genannten Eigenschaften zutreffen: über 60, gesichtsgepierct, dick, sichtbar tattoowiert, bejogginghost, russischen Akzent sprechend, verrentet, gehbehindert, schwerhörig, leicht behindert, schwer behindert, Hartz IV empfangend, sprachgestört, ehemaliger ABV oder Stasi-IM, verbittert, verbiestert, genervt, „früher war alles besser“ stammelnd, sich als Opfer der Geschichte empfindend… Den Lichtblick im Tunnel der Verlierer gewährt mir eine Omi. Sie erinnert sich daran, dass ich letztes Jahr schon da war, erkundet sich nach meinem Wohlbefinden und hat (wieder) etwas vorbereitet: Ein Ritter-Sport-Nussgeschmack-Mini mit Teelicht und Kerze in Gestalt eines norwegischen Trolls. Einer von der Sorte, die sich Leute auf Treppenstufen stellen oder in Anbauwände – ein postmoderner Gartenzwerg zum Anzünden. Ich freue mich. Ehrlich. 700 abgelesene Zähler: Applaus.

Mittwoch: In einer Naturheilpraxis öffnet mir eine Frau deren Wohnung nach Original Raubkatzen-Haus im Leipziger Zoo zu DDR-Zeiten riecht. Der Hauseigentümer berichtet mir von dem Hund und der Katze in der Wohnung und von „mental Labilen“, die bei der hageren Müslifrühstückerin Hilfe suchen. In ihrem Tigerkäfig stinkt es nach mehr als Hund und Katze. Vielleicht ist der Gestank Teil eines Naturheilkundeverfahrens.

Eine Eigenheimbesitzerin mit 5er BMW in der offenen Garage schmeißt mir die Tür vor der Nase zu, obwohl ich ihr erklärt habe, dass das Vertriebsnetz in Gera von den anderen Anbietern genutzt wird und dafür eine Nutzungsgebühr bezahlt werden muss. Ein Zählerableser kann nicht besser Bescheid wissen, als eine kinderlose Frau Mitte 40, die es zu Eigenheim, BMW und zur Sparkassenfilialleiterin geschafft hat. Du klingelst bei anderen Leuten, um Stromzähler abzulesen. Du bist unten. Ich bin oben. Lass mich in Ruhe. Für Selbstablesekarten, die ich in Briefkästen schmeiße, bekomme ich kein Geld. Ich vermerke „Zutritt verweigert“ im Ablesegerät. Am Ende des Tages verzeichne ich 600 Zähler: Standard.

Donnerstag: Auf den Tag habe ich mich gefreut. 80% Blockablesung und mit dabei meine Lusaner Lieblingsplatte: Aus zwei Elfgeschossern mit ehemals vier Hauseingängen wurde ein moderner Wohnpark für altersgerechtes Wohnen gemacht – inklusive zentralem Eingangsportal mit Pförtner. Für die Zählerablesung bedeutet das knapp 200 Zähler in nicht einmal 30 Minuten. Die Pförtnerin bringt mich zu den drei Zählerräumen. Ich bin im Paradies. Ich tippe wie der Ablesekönig. Von dem Surren der knapp 90 Zähler pro Raum kriege ich Kopfschmerzen. YippieYahYeh Schweinebacke, egal, die Quote stimmt. Das Beste: Ich muss mit niemandem reden, nicht klingeln und kein Sprüchlein aufsagen. Nur ich und die Zählerstände. Ein bisschen fühle ich mich wie Dagobert Duck in seinem Geldspeicher. Nach 800 Zählern ist Schluss: Anstandsapplaus.

Freitag: Höllentour Teil I. Von 08.00 Uhr bis 13.30 Uhr lese ich keine 40 Zähler ab. Das deckt nicht einmal das Spritgeld. Aber ich bin trotzdem clever, bilde ich mir ein. In einer ehemaligen Gartenanlage haben smarte Laubenpieper nach der Wende aus ihrer Datsche ein Eigenheim gemacht. Irgendwann wurde dem ein Riegel vorgeschoben. Trotzdem blieben die, die gebaut hatten, dort. Nun kurve ich kilometerlange Zwei-Meter-Breit-Wege durch die Gartenanlage. Es holpert beim Fahren in den zwei Fahrrinnen. Orientierung ist kaum möglich, denn links wie rechts stehen mannshohe Hecken. Ich cruise durch den Tunnel deutscher Gemütlichkeit. Jeder Briefkasten bekommt ein Zettelchen auf dem steht, dass ich morgen komme – mit Uhrzeit, Handynummer und als besonderes Schmankerl unterlege ich den Passus – bei Abwesenheit den Zählerstand einzutragen und den Zettel an das Gartentor, die Haustür oder den Briefkasten zu hängen – mit einem neongelben Textmarker. Ich will sicher gehen, dass kein Laubenpieper mir entwischt. Wer den Einfamilienhauszählerpfennig nicht ehrt, ist den Blockstromzählertaler nicht wert.

Dann düse ich zu meiner „Ausgleichstour“. Die habe ich zugeteilt bekommen, weil die Gartenanlagen so zeitraubend und uneinträglich sind. Ich freue mich und denke an das Elfgeschosser-Pflegeheim. Dann stehe ich da vor dem Block und klingle, trete ein, finde die Stromzähler im Zählerkasten und will in den Keller zu den Gaszählern. Ich finde sie nicht. Ich checke die Hinweise im Ablesegerät. Schock. Die Gaszähler befinden sich in den Wohnungen. 180 Wohnungen mit Gaszählern. Ich treffe mich mit einem Kollegen zum Kaffeetrinken. Ich bin absolut demotiviert, ob der Masse an Rentnern und Playstation-Tagesaufgabe-Idioten, in deren Wohnungen ich muss. Der Tag ist gelaufen. Ich mache noch 150 Zähler in einer Straße mit Einfamilienhäusern. Hier werden schon Weihnachtmänner aus Plastik an Bäumen festgebunden und aus dem Anbringen von Lichterketten an Gartenzäune und Dachgiebel wissenschaftliche Experimente. Nachbarn unterhalten sich quer über die Straße. Jeder weiß es besser. Ein Zahnarzt kommt gerade nach Hause, als ich bei ihm klingle. „Der ganze Klimmbimm ist sowas von grässlich.“ Das erste Mal in meinem Leben lächle ich einen Zahnarzt an.

Samstag: Höllentour Teil II. Bei Morgennebel fahre ich auf der Bundesstraße Richtung Gera. Ich bin guter Dinge. Samstags ist die Wahrscheinlichkeit, dass Einfamilienhausbesitzer in ehemaligen Gartenanlagen zu Hause sind zumindest nicht gering. 09.17 Uhr klinge ich bei einer Frau, die mich als „Arsch“ beschimpft. Ich verweise auf meinen Zettel am Briefkasten. Der Arsch bleibe ich – trotz Textmarker und Handynummer. Wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, hallt das lange nach. Ich denke den ganzen Tag an die Frau und was ich ihr getan haben könnte. Mit fast 30 könnte man über soetwas auch mal drüberstehen. Könnte.

Ein Mann zeigt mir im Keller einen ferngesteuerten Reisebus, den er als Sechstklässler mit Metallbaukasten selbst zusammengebastelt hat. Mit Taptenleim und Zeitungspapier hat er ihm eine Karosserie verschafft. Anstelle eines Nummernschilds prangt ein Interflug-Aufkleber über der Stoßstange. Daneben steht ein Trafo von der Größe einer Schreibmaschine samt 6m Kabel. Heute ist der Mann Elektroinstallateurmeister mit eigener Firma. Sechstklässler spielen heute nicht mehr mit Metallbaukästen. Später gründen sie keine Handwerksbetriebe. Auch ein Grund warum Gera in 100 Jahren tot ist.

Ein einarmiger alter Mann lebt allein in seiner ehemaligen Datsche. Vor dem Haus steht ein Trabant und rostet vor sich hin. „Der ist aber noch gut.“ Er bittet mich an seinen Küchentisch. Es riecht nach Wurstsuppe und Urin. Er ist einsam und seine Barthaare stehen in alle Richtungen. Hätte ich Zeit würden wir Kaffee trinken. Ich muss aber weiter. Einmal Arsch reicht für heute. Ich muss zu allen, die einen Klebezettel haben.

Mein drittletzter Einfamilienhausbesitzer schickt seine Ehefrau mit den Worten „Geh zurück in deinen Stall“ zurück ins Haus. Es duftet nach Mittagessen im Garten und im Keller. Stallgeruch.

Kurz vor 13.00 hab ichs hinter mir. 120 Eigenheime im Ablesegerät. Bevor ich den Mittelfinger Richtung Gartenanlage richten kann, muss ich jedoch den ADAC rufen. Ich hab beim Parken das Licht im Auto angelassen. Bei Minus 7 Grad hat das gereicht.

Fortsetzung folgt… Werde ich eine soziale Mitte finden oder habe ich sie in letztbeschriebenem Vorzeigeexemplar eines Ehemanns bereits gefunden? 

17 Antworten to “In 100 Jahren ist Gera tot – Teil I”

  1. pseudoruprecht 11/28/2010 um 19:11 #

    Der link auf Flattr ist leider defekt. Bitte beheben, wäre schade drum!

    • tracktate 11/28/2010 um 23:14 #

      Danke!

      …ich kann keinen Fehler beim Flattr-Link erkennen – müsste funktionieren… oder?

      Beste Grüße,
      Philipp

  2. andré 11/29/2010 um 08:24 #

    Hallo Philipp!

    Bei mir funktioniert der Link zu Flattr. Du sollst diesen Monat meine ganzen Punkte haben!! Es braucht mehr solche Berichte!

    Wie du weißt, hat es mich von Thüringen nach NRW verschlagen. So ging ich meiner Arbeit erst in einer kleinen Stadt bei Weimar nach und tue es jetzt in einer solchen nahe Aachen. Mir fällt auf, dass es hier im Westen – in dieser Kleinstadt – noch weniger soziale Mitte, oder wie man so sagt, normale Leute gibt, als das in Apolda der Fall war. Keine Ahnung woran das liegt. Hier handelt es sich um ein Gebiet der Tagebaue: Braunkohle. Allerdings gibt es nur noch einen Größeren. Ganze Orte liegen im Sterben.

    So von Berufs wegen bin auch ich hin und wieder in fremden Wohnungen zu Gast (Rettungsdienst) und hier tief im Westen, scheint mir der untere Rand ungleich breiter. Alle von dir beschriebenen Milieus sind hier extremer als ich es kannte. Ganz empirisch: Im Osten standen unsere Besuche sehr oft in Zusammenhang mit den Trinkgewohnheiten der Probanten. Es mag hier makaber klingen, aber man konnte wohl von Stammkunden reden. Das sehe ich jetzt weniger, dafür umso mehr „Drogenfälle“, Nachwirkungen von Gewalttätigkeiten aller Art und bedeutend mehr Selbstmorde bzw. die ganze Palette der psychischen Notfälle. Mitte gibt es hier nicht und nur noch sehr wenige Oben. Das sind natürlich nur meine Beobachtungen und so oft und systematisch wie der Zählermann kommen wir ja nicht zu Besuch..

    Was soll werden? Weißt du es?

  3. puvo 11/29/2010 um 12:33 #

    Sorry, aber wenn ich das so lese hat es Gera verdient, in 10 Jahren tot zu sein.

    In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, kriegte die Postfrau ein kleines Präsent zu Weihnachten und der Handwerker nen Kaffee angeboten.
    Das ist so übel nicht gewesen, meine ich.

    Trotzdem (oder gerade deshalb): Ein grandioser Beitrag!
    Du solltest jedem auf seinen Klebezettel den Link hierher schreiben…

    Halte durch!

  4. maik 01/14/2011 um 21:42 #

    leider ziemlich daneben gegangen der Artikel, die Beobachtungen lassen sich ohne Zweifel ebenso auf Städte wie Zeitz, Apolda, Arnstadt, Greiz, Chemnitz, selbst auf Erfurt anwenden…

    trotzdem schön, dass du in Gera Geld verdient hast, ein bißchen mehr kritische Distanz wäre sinnvoll gewesen!

  5. tracktate 01/15/2011 um 13:02 #

    Hallo Maik,

    Danke für dein Feedback.

    Gleich zu Beginn meines Blogeintrags steht: „Es gibt etwas, dass ich während der letzten fünf Tage auf meinen Steifzügen durch Keller, beim Hin- und Herlaufen zwischen den Hauseingängen und beim Kontakt mit den Menschen vergeblich gesucht habe: die soziale Mitte. Es mag an Gera liegen – einer ostdeutschen Stadt abseits der Epizentren blühender Landschaften, aber vielleicht steckt auch mehr dahinter.“

    Damit wollte ich durchaus zum Ausdruck bringen, dass es sich hier (vielleicht) nicht nur um Beobachtungen handelt, die man in Gera machen kann. Ich habe hier versucht, aber vielleicht nicht stark genug gemacht, dass die Symptome auch auf andere Städte, wenn nicht auf ganze Regionen, zutreffen könnten.

    Ich war nun aber diese beiden Wochen in Gera und konnte nur da beobachten. Wer weiß, wo es mich das nächste Mal hinverschlägt und ob sich die Erfahrungen dort mit denen in Gera decken werden.

    „Kritische Distanz“ ist hingegen nicht die Aufgabe meines Blogs. Beobachtungen und Erlebnisse, die ich hier poste, sind aber durchaus kritisch in einem anderen Sinne – polarisieren, zuspitzen und Interpretationen vorschlagen sind m.E. auch Mittel der Kritik. „Distanz“ möchte ich aber gerade dann vermeiden, wenn es darum geht, mein persönliches Erleben und Beobachten zum Ausdruck zu bringen. Es liegt in der Natur eines jeden Betrachters, dass er oder sie nur einen (!) Blickwinkel einnehmen kann :-).

  6. marv 01/15/2011 um 15:37 #

    wie die einfamilienhausbesitzer in ehemaligen gartenanlagen bin ich auch oft am wochenende zu hause und habe somit genug zeit gehabt, um mir diesen lesegenuss zu bescheren. sehr schön, herr tracktate! just vor 2 tagen war der zählerablesemann bei mir in der wohnung. ich kenne ihn, er kommt seit 5 jahren immer im januar. und es lief bislang auch jedes jahr gleich: ich werde gegen 7 uhr geweckt von sturmklingeln an meiner wohnungstür, ich mache dementsprechend schlecht gelaunt auf, finde aber einen noch deutlich schlechter gelaunten ablesemann vor. er stöhnt und flucht und jammert ohne pause. er mag seinen job nicht, ich mag ihn nicht. vergangenes jahr hab ich ihn gebeten, es doch bei ein- bis zweimal klingeln zu belassen und mir dann wenigstens 10 sekunden bis zur tür zu geben. seine antwort war ein noch lauteres fluchen und stöhnen und jammern. dieses jahr hab ich mir den wecker gestellt, hab ihn schon kommen hören, ihm direkt nach dem ersten klingeln aufgemacht, hatte sämtliche türen und abdeckungen zu den ablesegeräten bereits geöffnet und hab ihn lächend mit „ich hab da schon mal was vorbereitet“ empfangen. ich glaube, wenn mein zähler in der küche nicht kaputt gewesen wär, er hätte nicht einmal geflucht. ich hab ihn noch draussen darüber schimpfen hören, dass er das ding nun auswechseln muss. ich hab schon oft drüber nachgedacht, ob ich ihn nicht doch was zu trinken anbieten sollte, aber er war mir einfach zu unsympathisch. und ich ihm deswegen vielleicht auch. und die anderen mieter vor und nach mir vielleicht auch. ein kreislauf vielleicht. vielleicht aber auch nicht und in 2 oder 3 jahren lächelt er mal und wir trinken ein schnelles wasser.

  7. Melanie Dressel 02/18/2011 um 12:11 #

    Gera ist ja sooo schlimm. Und wenn wir alle drüber meckern und jammern und immer weiter erzählen, wie schlimm es ist, dann wird es bestimmt besser und schöner und liebenswerter.

  8. tracktate 02/18/2011 um 12:47 #

    Hallo Melanie,

    Bitte auch Teil 2 des Erfahrungsberichts lesen – dort berichte ich durchaus Positives. Mir ging es in der Tat nicht darum aus Prinzip zu jammern und zu meckern, ich hatte nicht einmal die Absicht überhaupt zu jammern und zu meckern – Ich wollte beschreiben was ich gesehen und erlebt habe, nicht um ein Licht auf etwas zu werfen, des Lichtwerfens wegen, sondern weil das, was alle sehen, nicht gleichbedeutend ist mit dem, was alle wahrnehmen.

    Du wirst vielleicht entgegnen, dass vom Beleuchten allein aber auch nichts schöner und liebenswerter wird. Deswegen bin ich froh, dass ich in Teil 2 der Reportage gute und schöne Dinge in Gera entdecken konnte. Die habe ich beschrieben – genauso wie die hässlichen und bösen Dinge.

    Meine Aufgabe als Journalist kann es nicht sein aktiv zu verändern, das wäre als jemand, der nicht in Gera wohnt, auch anmaßend – aber ich kann versuchen zu beschreiben, was ich gesehen habe, andeuten was ich darüber denke und so versuchen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass etwas verändert werden kann – sozusagen kann ich durch Worte vielleicht anstiften sich Gedanken zu machen. Ich habe nur versucht den Finger in eine Wunde zu legen, um zu erfahren wie es sich dort anfühlt. Umso mehr Menschen von der Wunde wissen, um so mehr können sich daran machen, sie zu heilen. Meine Aufgabe sehe ich beim Informieren und vielleicht sogar „Anstiften“ als erfüllt an. Davon wird nichts schöner und liebenswerter. Aber darüber, dass sie vielleicht etwas lesen, dass sie berührt, aufregt oder inspiriert, machen sie sich Gedanken. Diese sind die Grundvoraussetzung dafür, dass etwas schöner und liebenswerter werden kann. Wenn ich dazu beitrage, dass sich Menschen über etwas Gedanken machen, dann habe ich mein bescheidenes Ziel erreicht.

  9. Stephan 10/12/2011 um 18:20 #

    Hallo Philipp,

    danke für den Einblick in den Job als Zählerableser.
    Genau so etwas hatte ich gesucht, da ich dafür ein Stellenangebot habe, mir aber irgendwie nicht sicher war, ob das machen soll.
    Deine Erzählungen haben meine ungefähren Vorstellungen bestätigt, sodass ich nicht mehr wirklich Lust dazu habe. Zumal es letztes Jahr so richtig viel Schnee hatte und ich oft mich genug hingelegt habe.
    Eine Horrorvorstellung, dass ich demnächst bei eisigen Temperaturen durch Schnee und Eis durch eine fremde Stadt stapfe, und zu jeder 2. Adresse zweimal hinlatschen muss.

    Danke, danke,danke!!

    • tracktate 10/12/2011 um 22:09 #

      Nunja. Auch wenn mein Bericht die Schattenseiten beleuchtet, heißt es nicht das es ein schlechter Job ist. Die Bezahlung ist sehr gut und es ist stets eine Erfahrung fürs Leben. Man muss sich aber darauf einlassen. 🙂

  10. Jens 08/24/2012 um 19:38 #

    Hallo,
    ein ziemlich gut beschriebener Zustand der Stadt Gera, besser kann man fast nicht ins Zeitgeschehen blicken als als ein Stromableser, man sieht echt „Alle“. Rentner, russisch sprechende Einwanderer, Enttäuschte, Frauen mit 40 ohne und Kinder, auswärts arbeitente Männer, Aufsteiger, Beamte, Rechte, Linke, einfach Alle.
    Und ich finde die ganzeErzählweise wahrlich unterhaltsam . Ein Viktor Hugo könnte Tristess auch nicht besser beschreiben.

    Aber Gott sei Dank gibt es auch ein anderes Gera, bodenständige Idealisten und Realisten, Neuankömmlinge und Phanthasten. Genau wegen denen wird Gera nicht sterben. Unser reussisches Fürstenhaus hat 800 Jahre sächsischer Großmannssucht wiederstanden, wir als Volk haben Napoleon und Hitler überlebt. Ich als Mensch hoffe daß viele hier in Gera wieder Vertrauen in unsere eigene Zukunft fassen, daß es meinen und allen anderen Kindern, Enkeln und Urenkeln hier in Gera gut geht.

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