In 100 Jahren ist Gera tot – Teil 2, oder Gera und der Hauch von Hoffnung

9 Dez

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Ich möchte den Schwarzen Gera-Peter nicht mit Pech übergießen. Deshalb habe ich in meiner zweiten Zählerableser-Karriere-Woche versucht die vielen Peter und Peterlinchen, ihre Behausungen und ihr Unvermögen in so vielerlei Hinsicht zu übersehen. Das fällt schwer, denn der Niedergang, das Sterben einer Stadt, ist doch allzu offensichtlich. Aber es gibt sie, die Leuchttürme der Hoffnung, die Samenkörner der Zuversicht, die mich mit Gedanken im Konjunktiv aus Gera abreisen lassen.

Haus Schulenburg

Copyright by Joachim Bartz

Wenn zum Beispiel das Haus Schulenburg auf der Kulturlandkarte Geras mehr Raum zur Verfügung gestellt bekommen würde, dann könnte man sich als Besucher Geras, so man von diesem Kleinod Wind bekommt, verlieben. Man könnte den Geraern, durch dieses Verlieben der Besucher, ein Gefühl von Bedeutsamkeit verleihen. Gera hat keinen Dom (Magdeburg), keinen Zoo (Leipzig), weder atemberaubende Kulturdenkmäler (Weimar) noch eine Universität (Jena). Gut; Kenner mögen einwenden, es gäbe Otto Dix – aber taugt der Maler Dix wirklich zur Integrationsfigur, zum Magneten für Lebenswert und Identifikation?

Otto Dix - Fotoausschnitt der öffentlichen Informationstafel in St. Goar

Copyright by Hans Weingartz

Gera hat indessen das Haus Schulenburg. Eine geräumige Industriellen-Villa im Bauhausstil – erbaut von dem Bauhäuser Henry van de Velde. Ein Investor hat die Villa nach der Wende gekauft, originalgetreu restauriert und heute erstrahlt sie in ihrem einzigartigen architektonischen Charme aufs Neue. Das weiß nur niemand. Dabei gibt es dort Kabarett-, Literatur- und Konzertveranstaltungen.  Der Zufall führt mich am Montagvormittag auf das Gelände, denn auch eine Industriellenvilla hat Stromzähler. Obendrein kümmert sich ein redseliger und aufgeschlossener Hausmeister um das Gebäude. Kurzes Geplänkel, staunende Blicke und ich befinde mich auf einer Privatführung durch die restaurierte Villa. Ich bin begeistert. Für fünf Minuten fliehe ich aus der Wirklichkeit. Keine patzigen Eigenheimbesitzer, nöligen Hartz-IV-Block-Idioten und schrullige Wendeopfer. Das Parkett knarzt, der Lichthof des Treppenhauses strahlt mondänen Anmut aus. „Alles original“, sagt der Hausmeister, „och de Fenster“. Ich mag Menschen, die in Zwei- bis Vier-Wort-Sätzen mit mir kommunizieren. Gera besitzt ein Kulturdenkmal, das keiner kennt. Ich frage im Verlauf der Woche immer wieder Menschen, die mir Keller- und Wohnungstüren aufschließen, ob sie schon einmal dort gewesen wären, oder es zumindest kennen. In der Mehrzahl handle ich mir staunende Blicke ein. „In Gera?“ „Ja, in Gera.“

Hinter der alten Villa steht ein abgewirtschafteter Neubaublock. Seit 1990 ist der Kasten verriegelt und verrammelt. Früher wurden hier Krankenschwestern während ihrer Ausbildung untergebracht –  ein Schwesternwohnheim. Auch da hängt irgendwo ein Zähler an der Wand. Der hat sich zwar seit 1990 nicht gedreht, muss aber trotzdem abgelesen werden. Das versteht niemand, wird aber trotzdem gemacht. Der Hausmeister und ich stapfen durch den Schnee. Er öffnet die abgewirtschaftete Tür. Es scheint, als ob selbst der Duft des Sozialismus konserviert worden wäre. In einer Zimmerecke auf dem Weg in den Keller liegen alte Zeitungen aus dem Sommer 1990. Der Block wird wohl abgerissen, irgendwann.

Um wieder einen hoffnungsfrohen Berg besteigen zu dürfen, muss ich mich zunächst gedulden und ein langes Jammertal durchschreiten. Am Dienstag werde ich auf diesem beschwerlichen Weg fast wegen Hausfriedensbruch angezeigt. Darum handelt es sich nämlich, wenn man nach zweimaliger Anmeldung niemanden antrifft, sich am Hoftor keine Klingel befindet und man das Grundstück betritt, um die Klingel an der Haustür im Hof zu betätigen. Der Kunde ist König und im Haus befinden sich acht Zähler. Da sie fehlen, versaue ich mir meine Ablesequote.

Mittwoch legt das Winterwetter Gera fast komplett lahm. Wenn ich meine Zettelchen klebe, um Anwohner darauf aufmerksam zu machen, wann die Ablesung erfolgen wird, gebe ich Zeiträume von zwei Stunden an. Dabei habe ich ein System entwickelt, dass niemand länger als 30 Minuten ab Ablesebeginn warten muss. Wegen dem Chaos auf den Straßen schaffe ich das am Mittwochmorgen nicht ganz und tauche so bei einigen in der letzten halben Stunde innerhalb des zweistündigen Ablesetermins auf –zwischen 08.00 Uhr und 10.00 Uhr schneie ich somit statt 8:15 Uhr um 09:45 Uhr in die Kellerräume und Hauseingänge. Diese „Verspätung“ reicht aus, um mehrere Renterblockbewohner auf die Palme zu bringen. „Eine Unverschämtheit ist das, die Leute so lange warten zu lassen.“ Wohlbemerkt, es geht um eine Verspätung, die keine ist. Passiert so etwas an einem Morgen im chaotischen Winterwetter, ist der Tag eigentlich gelaufen. Man hat die Exkremente am Fuß. Man wird sie nicht mehr los. Hinter jeder Tür lauert ein neuer Häufchenmacher und schubbst einen geradewegs in sein kotiges Konglomerat von Frust, Langeweile und Leere.

Donnerstag sehe ich Licht am Ende des Tunnels. Da sind wieder die Konjunktive, die Hoffnung spenden. Ich begegne aktiven Volkssolidaritätmitgliederinnen, Herz-aus-Gold-Bäckersfrauen und schelmischen Möbelverkäuferinnen. Daneben treffe ich auch hemdsärmlig-liebenswürdige Handwerker, idealistische Architekten und zurückhaltend-weise Großväter.  Unter ihnen die seltene Spezies „Mensch unter vierzig“, der nicht in Jogginghose die Tür öffnet und auch keinen aufgepeppten 3er BMW vor der Tür geparkt hat. Menschen, die mir von ihren Versuchen berichten, diese Stadt ein wenig lebenswerter und weniger perspektivlos zu machen – viele ihrer Stimmen klingen dabei sehr resolut. Der Nachklang derselben aber klingt traurig. Sie sagen Sätze, die vermeiden sollen, dass die Wahrheit ihren Lebensmut angreift. Letztlich glauben auch sie nicht mehr an Gera. Sie glauben an sich. „Wenn viele Menschen in Gera wieder beginnen würden an sich glauben, würde Gera nicht sterben müssen“, sagt eine junge Frau mit zwei Kindern. Klar es wird Menschen geben, die es nicht schaffen, die wagen und nichts gewinnen, die scheitern. Es wird aber auch die geben, die etwas bewegen, die Wertschöpfungsprozesse in Gang setzen, die dem Verfall und dem langsamen Tod einer Stadt etwas entgegensetzen. Nur wenn das gelingt, hat Gera eine Zukunft über die nächsten 100 Jahre hinaus.

Am Freitag begrüßt in einem Hausflur ein Enkel seine Oma mit „Heil Hitler“, so wie ich zu meinen Großeltern „Hallihallo“ sage. Die Großmutter antwortet demgemäß. Allzu lange dürfen sich die wenigen Aufrechten der Stadt nicht Zeit lassen, um auf dem mutigen Fundament des schlichten Glaubens an sich selbst auch wirklich aktiv zu werden.

9 Antworten to “In 100 Jahren ist Gera tot – Teil 2, oder Gera und der Hauch von Hoffnung”

  1. Dr.Volker Kielstein 12/10/2010 um 12:31 #

    Vielen Dank für die eindeutigen Worte zu Haus Schulenburg und die noch immer zögerliche Würdigung in Gera.Ich bin mir sicher,daß Haus Schulenburg bald den Platz einnimmt,den es verdient. Mit besten Grüßen Volker Kielstein

  2. Haschek 12/20/2010 um 13:37 #

    „Ich mag Menschen, die in Zwei- bis Vier-Wort-Sätzen mit mir kommunizieren.“ Dann versuch das doch auch mal selber 🙂

    • tracktate 12/22/2010 um 09:46 #

      🙂 Wenn man alles haben wollen würde, was man nicht hat; wenn man alles sein wollen würde, was man nicht ist; wenn man alles übernehmen könnte, was man gut findet – dann käme ein ziemlicher Idiot dabei heraus… 😉

  3. masrix 09/02/2012 um 04:12 #

    natürlich hat gera einen zoo/tierpark 🙂

    • tracktate 09/02/2012 um 12:10 #

      Das stimmt – mit Pionier-Eisenbahn sogar. Ist ein Tierpark auch ein Zoo? Man könnte nun streiten 🙂

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